15 Aug Leben wagen – erst ab sechzig interessant?
Die Gedanken einer Autorin zu ihrem Buch…
So manches im Leben läuft anders, als man sich dies vorgestellt hatte. Mir zum Beispiel erging es so mit dem Titel meines Buches „Leben wagen bis ins hohe Alter“. Lange hatte ich darüber nachgesonnen, welcher Titel wohl der passende wäre für ein Buch, das eine wahrhafte Ode an das Potenzial von Menschen hohen Alters sein sollte – ein Buch, das vermitteln sollte, dass es bis ins hohe Alter hinein um das Wagnis LEBEN geht. Das Wörtchen „bis“ sollte dabei bereits wie ein magisches Schlüsselwort die Türe zu einem anderen Denken einen Spalt weit öffnen. Es sollte dem Betrachter signalisieren: Aufgepasst! Das, worum es hier geht, hat nur vordergründig mit dem Alter zu tun. Hier geht es um das LEBEN – ein Fluss, der in jungen Jahren beginnt und bis zum hundertsten Geburtstag weiterfließen und sich dabei sogar noch ausbreiten und vertiefen kann. So jedenfalls hatte ich es mir gedacht.
Wie erstaunt sollte ich dann sein, als ich später auf potenzielle Leser traf, die dem Aussehen nach die sechzig noch nicht erreicht hatten. Sie griffen nach dem Buch mit Worten wie: Ach, das wäre doch etwas für die Oma. Oder: Naja, demnächst ist das Alter dann ja auch mir angesagt. Etwas Jüngere dagegen schauten interessiert, um dann zweifelnd zu fragen: Kann ich dieses Buch denn meiner Schwiegermutter schenken? Sie wird erst fünfzig.
Verblüfft musste ich feststellen, dass ich in den Augen mancher Interessenten offenbar ein Buch für bereits alte oder jedenfalls schon ältere Menschen geschrieben hatte. Irgendetwas war da wohl falsch angekommen, mit meinem Titel oder besser gesagt: mit dem Verständnis dieses Titels. Ich tat mich schwer, das nachzuvollziehen, denn: Was konnte faszinierender sein, als die unglaublichen Lebensmodelle sehr alter Menschen zu entdecken? Zu wissen, dass es Menschen gibt, die den Mut haben, sich selbst zu leben und dabei althergebrachte Denkweisen auf den Kopf zu stellen, nimmt mich seit jeher gefangen.
Die Reaktionen auf den Titel meines Buches zeigten mir, dass nicht jeder es genauso sieht. Alter wird von den meisten Menschen als Abwärtskurve im Leben gesehen. Kein Wunder also, dass es keinerlei positive Anziehungskraft besitzt, dass Menschen, die sich noch nicht als alt einstufen, ein „Buch über das Alter“ nicht in die Hand nehmen mögen.
„Unvermeidlicher Lebensabschnitt“ oder stetiges Wachstum?
Das unerquickliche Alter. Das ist das Bild, das wir vom Alter haben. Kaum jemand vermittelt uns eine abweichende, positivere Vorstellung – die Eltern nicht, unsere Umwelt nicht und Ärzte schon gleich gar nicht. Wenn nahendes Alter positiv dargestellt wird, dann meistens im Sinn von: du kannst etwas am Alter reparieren, wenn du dich rechtzeitig darum kümmerst. Ob es Vitaminpräparate sind, Fitnesstraining oder Sudoku – in Bezug auf Alter scheint es überwiegend um Schadensbegrenzung zu gehen. Ja, selbst die Berichte über fitte Hundertjährige werden oft so angesehen, als handle es sich um extreme Ausnahmen, die es auf rätselhafte Weise bis dorthin geschafft haben. Gern werden dann die Gene ins Feld geführt.
Schadensbegrenzung einerseits und ein famoser, von menschlicher Einflussnahme nahezu unabhängiger „Sprung“ ins hohe Alter andererseits, das scheinen die beiden Möglichkeiten zu sein, Alter einigermaßen positiv zu sehen. Selten aber findet man Gedanken dazu, dass das Leben eine einzige, fließende Einheit sein könnte, dass kalendarische Altersdefinitionen soziale oder kulturelle Konstrukte sind, die uns daran hindern, diese „Lebenseinheit“ zu erkennen, sie anzustreben und zu leben. Wie anders würden wir dem Alter begegnen, wenn man uns von klein auf beibrächte, dass das Leben für jeden von uns ein solcher Fluss sein kann, dass es eine Aufwärtsspirale sein kann, auf etwas hin, das letztlich menschlicher Vollendung gleichkommt. Würden wir uns da nicht sogar darauf freuen?
Was für ein irreales Bild, mögen manche sich jetzt denken. Da kann man uns ja gleich erzählen, es gäbe einen Zauberstab, der Alter magisch verwandelt in Abenteuer, Freude, Wohlergehen oder gar in späte Selbstverwirklichung.
Nun, wenn dies irreal ist, dann sind es auch die Menschen, die tatsächlich nach einer anderen Vorstellung von Alter leben. Diese Menschen aber sind höchst real. Man wird sie aber nur dann kennenlernen, wenn man sich auf ein neues Denken einlässt, wenn man sich den ungeahnten Möglichkeiten öffnet, die sie uns entdecken lassen.
Alter beginnt erst später – das Leben aber hat schon begonnen
Jüngere Menschen wollen nicht an das Alter denken. Wenn man sich unsere Gesellschaft ansieht, haben sie sogar Recht damit. Unsichere Renten, Altersarmut, Pflegebedürftigkeit, Berufsunfähigkeit, Demenz – das ist das „Alterspanorama“, das wir jungen Menschen präsentieren. Wer soll da Lust bekommen, sich mit der Zukunft und dem Alter zu beschäftigen? Manche junge Menschen sind zutiefst erschreckt von dem, was sie im Alter erwarten wird. Politische Stimmungsmache, einseitiger Journalismus und Versicherungsinteressen sorgen dafür, dass dem so ist. Hört und liest man nicht ständig, dass es den heutigen jungen Generationen im Alter schlechter gehen wird als allen Generationen davor? Konsequent zu diesem zukünftigen Altersszenario sehen heutige Generationen junger Menschen sich als Loser. Sie seien die „Verlierer-Generation“, so sagte kürzlich ein 29-jähriger junger Mann in einer Talk-Show. Als ich im vergangenen Jahr mein Buch auf einer Messe vorstellte, kam ein netter junger Mann an meinen Stand. Mit weit aufgerissenen Augen sah er auf das Plakat von meinem Buch und sagte dann: Ich habe panische Angst vor dem Alter! Ich will auf keinen Fall alt werden! Er war gerade mal 21 Jahre alt.
Vielleicht denkt sich nun so manch ein Leser: Soll das etwa heißen, dass junge Menschen sich gar noch intensiver mit den Problemen des Alters beschäftigen sollen? Reicht es nicht, dass sie da wider Willen hineingezogen werden?
Nun, da wäre er wieder, der negative Blick aufs Alter – ein Blick, der das Leben zerteilt in das lebenswerte „davor“ und das unerquickliche „danach“. Schon haben wir vergessen, dass das Thema hieß: LEBEN wagen. Das Leben selbst aber hat sich weder das „Rentenalter“ ausgedacht noch das gesellschaftlich definierte „Seniorentum“ ab 60 oder gar ab 50+.
Der rote Faden in unserem Leben
Zugegeben, es ist nicht einfach, das Alter anders zu sehen, zumal Bürokratie, soziale Systeme und Wirtschaftsleben offenbar nicht in der Lage sind, anders zu funktionieren als in Alterskategorien. Oder können Sie sich ein Sozialgefüge vorstellen, bei dem niemand weiß, wie alt man ist? In unseren Breiten wäre das jedenfalls kaum denkbar. Die altersmäßige Einteilung des Lebens trägt zur Ordnung des Sozialwesens bei. Das hat seinen Sinn. Gleichzeitig aber fixiert es uns darauf, dass bestimmte Dinge zu einem bestimmten Zeitpunkt zu geschehen haben, und macht uns glauben, dass uns die einen Lebensabschnitte noch nicht und andere nicht mehr zu interessieren haben. Das aber macht viel weniger Sinn.
Gesellschaftliche Strukturierung, wirtschaftliche Zwänge, Alltagsstress und Zukunftsängste lassen uns zu oft vergessen, dass LEBEN auch etwas anderes bedeuten kann. Sich selbst definieren, seine Lebensaufgabe finden, menschliche Vervollkommnung anstreben – gehen diese Aspekte nicht oft im alltäglichen Lebenskampf unter? Wie viele lassen irgendwann einmal den roten Faden ihrer ureigenen Identität aus den Händen gleiten, vielleicht schon mit 30 Jahren? Die hochaltrigen Männer und Frauen, die ganz anders leben, als man es von ihnen erwartet, haben diesen roten Faden nie aus den Augen verloren oder sie haben ihn, nach einigen Um- oder Irrwegen, irgendwann einmal wiedergefunden, um ihn nicht wieder loszulassen.
Ich kann für junge Menschen ein Vorbild sein, kann ihnen die Angst vor dem Alter nehmen, das sagen viele der im Buch „Leben wagen bis ins hohe Alter“ porträtierten Hochaltrigen. Wer sonst, wenn nicht sie, die es sichtbar und überzeugend vorleben, sollte jungen Menschen die Angst nehmen können!